Quelle: Bloomberg
Lange wurde spekuliert, erst seit Februar ist es amtlich: Cullinan heißt das erste allradgetriebene Fahrzeug von Rolls-Royce. Jetzt lüftet der Hersteller Stück für Stück die Geheimnisse um seine technische Ausstattung. An Superlativen fehlt es nicht.
Geister, Gespenster und Phantome hatten in den vergangenen Jahrzehnten die Namensgebungen bei Rolls-Royce bestimmt, nun schien wohl deren schattenhaftes und flüchtiges Wesen nicht recht zu der wuchtigen Erscheinung des Neulings zu passen. Cullinan heißt die gewichtige Luxuskarosse, ursprünglich ist es der Name einer Kleinstadt in Südafrika und des Eigentümers jener Mine, wo einst der größte Rohdiamant der Geschichte gefunden wurde.
Stolze 3106,75 Karat wog der Edelstein vor seiner Spaltung, ein Wert, von dem in Kilogramm gerechnet und mit Insassen an Bord der Cullinan mit dem Doppel-R nicht mehr weit entfernt sein dürfte. Nicht nur beim Gewicht, sondern auch bei den Abmessungen setzt der neue Rolls-Royce Maßstäbe. Mit 5,34 Metern Länge und 2,14 Metern Breite verweist er selbst die Strech-Version eines anderen SUV-Giganten auf den zweiten Platz: Den Range Rover "Extended Wheel Base" übertrifft er um 14 bzw. sieben Zentimeter. Bei einem wichtigen Indikator für die Beinfreiheit im Fond, dem Radstand, liegt der Diamant aus Goodwood selbstverständlich auch vorne. Erstaunliche 17 Zentimeter mehr Platz zwischen den Achsen als der englische Konkurrent hat er aufzubieten.
Infantiles Ranglisten-Posing per Maßband ist für Rolls-Royce-Offizielle natürlich undenkbar. Ihre Motivation, das erste Allrad-Automobil der Marke in 114 Jahren zu entwickeln, sei allein von den Kundenwünschen inspiriert. "Sie haben darauf gewartet", sagt CEO Torsten Müller-Ötvös, "dass Rolls-Royce ein Automobil herstellt, das kompromisslosen Luxus bietet, wohin auch immer sich sein Besitzer damit wagt". Folgerichtig wurde die mühelose ("effortless") Fortbewegung, die seit Generation als Markenethos gilt, um die geografische Komponente ergänzt: "Effortless, everywhere".
Damit das in der Praxis tatsächlich auch so funktioniert, muss für den 4x4-Antrieb ein kräftiger Motor her. Den hat Rolls-Royce im Regal. Es ist der Sechsdreiviertelliter-Zwölfzylinder, der dank Biturbo-Aufladung 571 PS bereitstellt. Die werden vor allem dann gebraucht, wenn sich der Trumm der abgeregelten Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h nähert. Durchzugskraft ist natürlich nicht minder wichtig, denn Rolls Royce konnte es den Eigentümern ihrer Fahrzeuge unmöglich noch länger zumuten, ihre Boots- oder Pferdeanhänger von anderen Fabrikaten ziehen zu lassen. 850 Newtonmeter Drehmoment stehen zu Buche, verfügbar ab 1600 Umdrehungen.
Außer dem neu entwickelten Allradantrieb findet sich im Cullinan auch eine neue entwickelte Allradlenkung. Beides dient dem Ziel, den Insassen in einer Umgebung von ultimativem Luxus uneingeschränkten Zugang in unerschlossene Offroad-Bereiche zu gewährleisten. So wird er zum Wüsten unter den Edelsten. Der Sonderstatus der Neuschöpfung ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass Rolls Royce zur Beschreibung der Produkteigenschaften ungewohntes Vokabular anwendet. Von "Vielseitigkeit" ist die Rede, von "Familientauglichkeit" und von "Fahrspaß". Dem Anspruch, jedweder Herausforderung im Gelände gewachsen zu sein, trägt das Fahrzeug dadurch Rechnung, dass die Luftfederung nach Betätigen des Startknopfes die Karosserie um 40 Millimeter anhebt.
Mit dem Erscheinen des aktuellen Phantom hat Rolls Royce die "Architektur des Luxus" ausgerufen. Dem ist auch der Cullinan verpflichtet, obwohl ein Detail der Spitzen-Limousine vorbehalten bleibt: "The Gallery", die individuell gestaltbare Fläche vor dem Beifahrersitz, findet sich beim SUV nicht. Das Cockpit folgt eher herkömmlichen Gestaltungsprinzipien, außer den großen Bildschirmen belegt ein Dreh-Drücksteller auf der Mittelkonsole die Verwandtschaft zu bekannten BMW-Limousinen.
Es gibt wenig, was bei Rolls-Royce so wichtig ist wie Wahrung der Tradition. Deshalb ist es wichtig, dass die mächtige Motorhaube zwischen den Kotflügeln spitz zuläuft, die polierten Lamellen des Grills aufrecht im Wind stehen und die hinteren Türen gegenläufig zur Fahrrichtung öffnen. Diese unverhandelbaren Merkmale authentisch mit echten Innovationen zu verknüpfen, ist die Herausforderung, der sich die Ingenieure stellen müssen. Zum Beispiel dann, wenn sie eine bewegliche Aussichtsplattform im Heck installieren wollen. Wie eine faltbare Campinggarnitur sind dort zwei Sessel und ein Tischchen untergebracht, wo man ein Glas Champagner zu sich nehmen kann, während man im Freien die Abendsonne genießt.
Damit die Ruhe und Abgeschiedenheit, die von jeher das Fahrerlebnis in einem Rolls-Royce kennzeichnen, nicht hinter die der Limousinen zurückfällt, haben die Entwickler einen Trick angewendet. Die Trennung von Passagier- und Gepäckabteil nach dem Muster klassischer "3-Box"-Pkw soll das "Schweben auf dem Zauberteppich", das der Hersteller für eine Schöpfungen reklamiert, sicherstellen. Dass handelsübliche Sicherheits-, Assistenz- und Kommunikationssysteme an Bord sind, versteht sich von selbst.
Verbrauchswerte sind vermutlich die letzte Sorge, die einen potenziellen Käufer vor dem Erwerb eines Rolls Royce bewegt. Die 15 Liter je 100 Kilometer im Mittel sind, wie der Hersteller jetzt die Öffentlichkeit wissen lässt, bereits auf der Basis des neuen internationalen WLTP-Standards gemessen. Unzweifelhaft ist der 310 Kilogramm schwere Motor ein High-Tech-Produkt, aber gleichzeitig recht genügsam. Er gibt sich auch mit Sprit zufrieden, der weniger als die in Europa gängigen 95 Oktan aufweist. Das "everywhere" gilt schließlich weltweit, und nicht überall wird Sprit mit der gleichen Klopffestigkeit verkauft.